Angela Stadthaus - Westdeutsche Zeitung - 17.08.2006

"Es ist nicht einzusehen, warum eine steigende Bevölkerungszahl der
Stein der Weisen sein soll." Beim Moltke-Forum erteilte der Soziologe
Professor Karl Otto Hondrich allen demografischen Unkenrufen eine
Absage. Vor allem junge Zuhörer lauschten seinem Vortrag in der zum
Bersten vollen Aula des Gymnasiums.
"Was sich erhalten soll, ist
eher die Qualität der Gesellschaft, nicht die Zahl ihrer Mitglieder",
erklärte Hondrich seine Grundannahme. Im Bereich der Familie sah er
diese Qualitätssteigerung durchaus gegeben: "Letztlich zählt heute die
Liebe zwischen den Partnern sowie zwischen Eltern und Kindern. Vor 100
Jahren war das nicht so." Trotz des Rückgangs an Geburten sei die Zahl
der Familienmitglieder in den letzten 50 Jahren im Bewusstsein der
Bevölkerung sogar angewachsen. Nach einer repräsentativen Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts in Allensbach rechneten die Befragten
nämlich beispielsweise ihre Herkunftsfamilie genauso dazu wie eine
Freundin, die die Kinder regelmäßig betreut, oder eine angeheiratete
Familie in zweiter Ehe. "Die Familie ist kein biologisches oder
statistisches Phänomen mehr. Wir selbst entscheiden, wer zu unserer
Familie gehört", schloss der Soziologe. Die Hindernisse, Kinder zu
bekommen, seien zwar größer als noch vor 30 Jahren. Wer sich jedoch
trotzdem für den eigenen Nachwuchs entscheide, sei auch bereit, sich um
ihn zu kümmern. "Greisengesellschaften sind produktiv"

Hondrich riet den Politikern deshalb davon ab, die Geburtenrate mit
materiellen Anreizen zu erhöhen: "Diese Mittel werden zu Personen
gelenkt, die sonst keine Kinder bekommen würden, weil sie andere
Interessen haben." Auch in den Bereichen Wirtschaft und soziale
Sicherung sieht Hondrich schon die Selbstheilungskräfte des Systems am
Werk: "Die Wirtschaft braucht die Kinder nicht, die nicht geboren
werden." Dafür machte er die ungebrochenen Produktivitätssteigerungen
in den Betrieben verantwortlich, die darauf abzielten, Arbeitskräfte
einzusparen. "Greisengesellschaften wie Japan weisen den weltweit
höchsten Produktivitätsschub auf", nannte er als Beispiel. Eine
sinkende Geburtenrate sei fast als natürlicher Ausgleich für die
wachsende Produktivität zu betrachten. Die Probleme in der
Sozialversicherung seien seit ihrer Einführung zu Bismarcks Zeiten
vorprogrammiert: "Durch die Kollektivierung der sozialen Sicherung
haben wir einen Weg beschriften, auf dem die Leute sagen:, Warum noch
Kinder?' Ich bekomme meine Rente sowieso." Die derzeit geführte
Diskussion um die Reform der Sozialsysteme sah der Professor bereits
als Teil der Lösung an: In unserer Gesellschaft sei durch die
Lobby-Arbeit der Interessengruppen und ihr Ringen um die Ressourcen
deren gerechte Verteilung gesichert.

 

KARL OTTO HONDRICH

  • Karl Otto Hondrich (Jahrgang 1937) war seit 1972 Professor für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 2005 gab er dort seine Abschiedsvorlesung.
  • In einer Grundlegung der Soziologie reduziert er die immer wieder aufscheinenden Prinzipien des Sozialen auf fünf elementare Prozesse: erwidern, werten, teilen, verbergen und bestimmen.
  • Jüngste Veröffentlichungen: "Wieder Krieg" (2002) und "Enthüllung und Entrüstung" (2002)