Krefeld Bewegende Reden gab es zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Im Moltke-Gymnasium sprach der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Angriffen. Die Frage nach Verantwortung heute stand über dem Gedenktag.
Das Ringen um Fassung war Michael Gilad anzusehen. „Es geschah im vergangenen Jahrhundert. Aber nach der Befreiung von Auschwitz ging das Morden weiter in den anderen Konzentrationslagern.“ Und es sei nicht vorbei. Gilad sprach bedächtig: „Ich sage ganz ehrlich: Ich habe Angst.“ An dem Tag, an dem 75 Jahre zuvor die Rote Armee die Überlebenden im Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz befreit hat, spricht ein Krefelder von intensiv empfundener Bedrohung. Im Auditorium ist kein Atemzug zu hören. Gilad ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Krefeld, und er sagt, dass ihn nicht nur die jüngsten Gewalttaten aus der rechten Szene beunruhigen. „Auch ich habe in Krefeld Beleidigungen und körperliche Angriffe erlebt“, berichtete er bei der Holocaust-Gedenkveranstaltung, die Schüler- und Lehrerschaft des Gymnasiums am Moltkeplatz am Montag ausgerichtet haben. Es war ein Vormittag, der unter die Haut ging, weil er nicht von der Erinnerung allein lebte, sondern die Gegenwart beleuchtete. Das berührte die Gäste in der voll besetzten Aula.
„Die AfD hat schon Abgeordnete im Bundestag. Wir kennen die Politiker, aber ihre Anhänger sind anonym“, sagte Gilad. Mit bewegter Stimme schilderte er, dass er die Gräuel der Shoah erlebt habe, „nicht physisch, weil ich kurz nach dem Krieg geboren bin, aber in den Erzählungen meiner Eltern. Die Erinnerung wird bei solchen Gedenktagen immer wieder wach.“ Er berichtete von der Deportation der Eltern, von Familienangehörigen, die er nur von Fotos kennt – aufgenommen, kurz bevor sie von der SA verschleppt oder erschossen wurden. „Wir müssen gemeinsam gegen Antisemitismus kämpfen, damit unsere Kinder so etwas nicht erleben müssen.“
Mit einer beeindruckenden Rede schloss Sandra Franz, Leiterin der NS-Dokumentationsstelle der Stadt, die zweistündige Veranstaltung. Sie appellierte: „Es ist Zeit, zu zeigen, dass wir etwas aus den Verbrechen der Vergangenheit gelernt haben.“ Eine schweigende Masse, die nur zusehe, mache sich schuldig. „Was haben wir gelernt“, fragte sie, „wenn in Europa Menschen wegen ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung oder Nationalität angegriffen werden.“ Jeder sei gefragt, es nicht zuzulassen, dass die Gesellschaft gespalten werde von Leuten, die alle, die von der eigenen Meinung abwichen, als Bedrohung empfänden. „Die Partei, die man wählt, reflektiert auf den Wähler zurück. Jede Stimme unterstützt ihr Anliegen. Die Zeit, zu sagen: ,die meinen es nicht so’ ist vorbei.“
Auch Oberbürgermeister Frank Meyer betonte, dass der 27. Januar nicht nur einen Blick in die Geschichtsbücher bewirken darf. „Wir müssen uns fragen, was es für uns bedeutet, wenn Menschen 2020 unter Druck gesetzt, bedroht und ihre Freiheit eingeschränkt werden.“ Er habe noch beeindruckende Zeitzeugen kennengelernt. Viele gebe es nicht mehr. Deshalb sei es wichtig, dass junge Menschen sich mit dem Thema auseinandersetzen, auch mkit Blick auf Gegenwart und Zukunft – wie jetzt im Moltke.
Paul Celans „Todesfuge“ stand als Motiv über der Gedenkstunde. Der Dichter aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie ist durch Arbeitsdienste der Deportation entgangen. Seine Eltern sind in Zwangsarbeiterlagern umgekommen. Dieses Schicksal schwärt dunkel in allen Gedichten, die er verfasst hat. Im „Moltke“ hängen die ersten Verse der „Todesfuge“ als Bronzetafel neben den Namen von 14 Moltke-Schülern, die aus Krefeld deportiert wurden. Das Thema ist in der Schule allgegenwärtig. Schüler haben gesammelt und so viel Geld zusammengetragen, dass im März 20 Stolpersteine für sechs ehemalige Moltke-Schüler und ihre Familien verlegt werden können. Eine Gruppe des Deutschgrundkurses Q1 las das Gedicht mit verteilten Rollen vor, unterteilt in die Perspektiven von Opfer, Erzähler und Täter.
Wie fühlt sich das Leben an, wenn man ausgeschlossen, verfolgt, vom Tod bedroht wird, haben sich die Schüler in verschiedenen Projekten gefragt. Der Philosophie-Grundkurs Q2 hat einen fiktiven Josef ab 1935 seine Erlebnisse bei Instagram posten lassen – belegt mit historischen Fotografien. Die zunehmenden Einschränkungen für Juden, die Schilderung der Reichspogromnacht und das plötzliche Verstummen als Post im sozialen Netzwerk waren nah am Leben der Schüler. Mit den Tagebüchern von Viktor Klemperer hat sich der Zusatzkurs Geschichte II der Q2 auseinandergesetzt und alle Utensilien des Alltags, die heute selbstverständlich sind, auf den Tisch gepackt: vom Handy übers Radio bis zum Popcorn-Becher fürs Kino. Mit Verlesen der Verbote für Juden verschwand Requisit für Requisit wieder – inklusive des Familienhundes, weil auch das Halten von Hunden, Katzen und Vögeln Juden untersagt war.
Auch die Musik der Schüler war mit großer Sorgfalt gewählt: Samuel Bergé (Violine) und Rafael Bergé (Cello) beeindruckten mit der hoch anspruchsvollen „Zingaresca“ von Erwin Schulhoff, der 1941 deportiert wurde und an Tuberkulose starb, der Mazedonier Zoran Trenchov spielte ein Werk von Tschaikowsky, der seine Homosexualität geheim halten musste, Gabriela und Rebecca Tenzer fingen die Moll-Stimmung mit Brahms’ Ungarischem Tanz ein. Und die frischen jungen Stimmen der Moltke-Chor-AG verbanden sich klangvoll mit denen des Chors der jüdischen Gemeinde. Eine bewegende Stunde.
„Moltke“ richtet zum zweiten Mal aus
Das Gymnasium am Moltkeplatz hat die Gedenkveranstaltung zum zweiten Mal ausgerichtet. Schulleiter Udo Rademacher und OB Meyer wiesen darauf hin, dass die erste Veranstaltung 1998 auch im Moltke stattfand.
„Seit 1982 beschäftigen wir uns intensiv mit dem Schicksal der in der NS-Zeit umgekommenen Schüler“, sagte Rademacher.