Anlässlich des 25. Moltke-Forums gelang es Herrn van Randenborgh, mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker einen besonderen, sehr geschätzten Referenten in das Gymnasium am Moltkeplatz zu holen. Es folgt eine inhaltliche Wiedergabe der Diskussion, die mit Schülern unserer Schule geführt wurde.
Herr van Randenborgh:
Welche Motive können Sie den jungen Menschen mitteilen, sich trotz Spendenaffären etc. politisch zu betätigen?
Herr von Weizsäcker:
Er hält die Frage für legitim - und schwer zu beantworten. Drei Aspekte erscheinen ihm zu bedenken: das Verhalten von Politikern, b) der Einfluss der Medien und c) Meinung der Gesellschaft (ob jung oder alt).
Zu a) Während in den Anfängen der BRD Politik als Nebenberuf aufgefasst wurde, stellt sich heute das Problem des Berufs ‚Politiker'. Er selbst ist als Jurist sehr spät in die Politik eingestiegen. Seine Motivation war es, eine Verbindung zu Osteuropa, insbesondere zum ehemaligen Kriegsgegner Polen aufbauen zu helfen.
Zu b) Den privatwirtschaftlich organisierten Medien geht es nicht um objektive Information, sondern um das Erreichen bestimmter Quoten. Diese versucht man mit Unterhaltung und oberflächlichen Berichten zu erreichen. Sehr problematisch erscheint ihm, dass auch Politik in den Medien ein Unterhaltungsfaktor geworden ist.
Zu c) In der Gesellschaft gibt es seiner Meinung nach einen Trend zur Isolation des einzelnen Menschen. Man konsumiert die Medien eher unkritisch und tauscht Meinungen kaum noch aus. Besonderes Augenmerk gilt den elektronischen Medien, deren isolierende Wirkung besonders groß ist - was andererseits kein Argument gegen die elektronischen Medien sein darf.
Herr van Randenborgh:
Er fragt nach dem Zitat in seinem Buch "Dreimal Stunde Null": ‚Geschichte gehört zu uns, auch wenn wir sie nicht selbst erleben' sowie nach einer Bewertung der Wiedervereinigung Deutschlands.
Herr von Weizsäcker:
Er möchte eine ‚kühne These' aufstellen und eine Parallele zwischen den Vorgängen von 1989 und 1789 ziehen. Trotz einiger Unterschiede ging es in beiden Ereignissen um die Menschenrechte und die Chance der Einigung des europäischen Kontinents auf friedlichem Wege. Die Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands wurde von Michael Gorbatchow erbracht. Indem er die Breshnew-Doktrin aufhob und Reformen propagierte (Glasnost, Perestrojka) führte dies nicht zur gewünschten Beruhigung der Bevölkerung der UdSSR, sondern zur Verselbständigung der damaligen Sowjetrepubliken und einer Auswirkung auf eine neuen Entspannungspolitik. Heute sei die Vereinigung Deutschlands außenpolitisch erreicht, innenpolitisch wird aber noch Jahre daran gearbeitet werden müssen.
Kerstin Thoma (Stufe 12):
Sie fragt, wie die Sachlichkeit in der politischen Arbeit in das Zentrum der Bemühungen gerükt werden kann und verweist auf einigen Widerstand, den Herr von Weizsäcker nach kritischen Äußerungen gegenüber seiner eigenen Partei erfahren hatte.
Herr von Weizsäcker:
Seiner Meinung nach müssen die Repräsentanten einer Nation die den Bürger bewegenden Themen aufnehmen und ihre Meinung dazu weitergeben. Dies könne im Einzelfall zu einem Problem für den Politiker bzw. für seine Partei führen. Man dürfe aber nicht darüber hinwegsehen, dass es legitim ist, um die Macht in einem Staat zu kämpfen. Als Beispiel könne die Diskussion um das Zuwanderungsrecht angesehen werden. Manche halten diese für unnötig. Man müsse aber bedenken, dass das Staatsangehörigkeitsrecht Deutschlands aus dem Jahr 1913 stammt. Der seit der Hessenwahl geführte Streit geht um die macht in einem Land, nicht um die Sache. Er bedaure dass in dieser Wahl eine Methode zu einem Wahlsieg geführt habe, die er nicht gutheißen kann.- unabhängig von den Fähigkeiten der Politiker, die durch diese Methode die Wahl gewannen. Die Vorgänge in der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsrecht sollten gerade die jungen Menschen als Lehrstunde ansehen, wie eine politische Diskussion nicht geführt werden darf.
Kerstin Thoma:
Wie könnte denn eine Änderung in den Menschen erfolgen?
Herr von Weizsäcker:
Hilfe bietet nur eine angemessene Erziehung.
Simon Fels (1oc) :
China versucht, ein Gegengewicht
zu der Stellung der Vereinigten Staaten in der Welt zu sein. Sollte
Europa als Bündnispartner Chinas auftreten, um diesen Versuch zu
unterstützen?
Herr von Weizsäcker:
Er hält die Frage für interessant. Die USA stellen nur 5% der
Weltbevölkerung dar, China mit Indien zusammen aber 35%. Beide
asiatischen Nationen versuchen, unabhängig von den USA zu einem
Wichtigen Faktor in der Weltpolitik zu werden. Es könne nicht schaden,
wenn Europa als Verbündeter der Vereinigten Staaten dennoch als
Gegengewicht auftritt. Es sei ja das Problem der Amerikaner, dass sie
mit den Partnern ungern Verantwortung teilen, andererseits bestehe
deren Stärke darin, sich auch mit vielen eigenen Opfern für Demokratie
einzusetzen. Man denke nur an den Einsatz der USA im 2. Weltkrieg und
die Unterstützung der jungen Demokratie in Deutschland durch den
Marshall-Plan und die Unterstützung Berlins während der Blockade durch
die UdSSR.
Ein unipolares System ‚USA' hält er für die Welt für nicht leicht
erträglich. China versucht sich als Gegenpol, doch lassen die
politischen Reformen noch zu wünschen übrig - die chinesischen
Politiker behaupten, sie wollen dadurch die Fehler der UdSSR vermeiden.
Christopher Mokwa (Stufe 12):
Inwieweit sollte ein Bundespräsident zu aktuellen Problemen öffentlich Stellung beziehen?
Herr von Weizsäcker:
Er weist auf festgelegte konkrete Kompetenzen, die politisch gesehen
von bescheidenem Umfang sind. Es gebe aber Beispiele aus der
Vergangenheit, wie in besonderen Situationen politische Entscheidungen
durch den Bundespräsidenten beeinflusst wurden. Bei der Modernisierung
der amerikanischen atomar bestückten Kurzstreckenraketen (in den
Achtziger Jahren), die in Deutschland stationiert waren, schwieg die
Bundesregierung. Er als Bundespräsident wurde bei einem
Auslandsaufenthalt von Journalisten gefragt, was er davon halte. Seine
Antwort. "Garnichts." Danach war es für die Bundesregierung
schwieriger, mit dem Problem umzugehen. Dies sei nur ein Beispiel, wie
ein Bundespräsident, der ohnehin einen engen Bezug zur Außenpolitik
hat, Äußerungen zu aktuellen Themen abgeben kann.
Benjamin Ries (Stufe 12):
Welches sollte für Europa Endziel der Entwicklung sein: ein Staatenbund wie in den USA oder ein föderatives Bündnis?
Herr von Weizsäcker:
Er erinnerte an einen Ausspruch Winston Churchills, der einen Weg zu
den ‚Vereinigten Staaten von Europa' beschreiten wollte. Die USA seien
aber eine Nation. Das wollen und werden wir in Europa nicht erreichen.
Es sei angebracht, eine Föderation von Nationalstaaten anzustreben.
Trotz gemeinsamer Wurzeln in der Antike bestehe Europa aus ganz
unterschiedlichen Kulturen und Größen. Den kleinen Ländern sei es
unmöglich, auf Eigenständigkeit zu verzichten.
Niklas Fels:
Hat bei den jetzigen Mentalitäten der Nationen eine Verfassung für Europa eine Chance?
Herr von Weizsäcker:
"Das bleibt abzuwarten!" meint Herr von Weizsäcker. Es habe sich ein
europäischer Konvent gebildet, der sich mit einer Verfassungsgebung
beschäftigt. Eine Osterweiterung der EU hält er für wichtig und
berichtet vom Besuch des estnischen Regierungspräsidenten, der die
These aufstellte: "Europa kehrt nach Estland zurück!" Der europäische
Rat sollte -analog zum Bundesrat - mehr Kompetenzen erhalten.
Vetorechte einzelner Nationen können keine Zukunft haben. Vorschläge
für diese Entwicklung einer europäischen Verfassung werden erst nach
langen Verhandlungen zu einem Ziel führen. Die heute anwesenden Schüler
sollten in fünf oder dreißig Jahren ihre Lehrer nach diese Entwicklung
fragen.
Julian Becker (1oc):
Was ist von einem zentralen Abitur in Europa zu halten?
Herr von Weizsäcker:
Das sei eine schwierige Frage, die eher verneinend beantwortet werden
müsse. Als zentralistisches System führt er das Schulsystem in
Frankreich an, das eine Elitebildung fördert. Dies habe aber dazu
geführt, dass die Absolventen der Eliteschule ENA aus der Politik
ausscheiden, um in der Wirtschaft mehr Geld zu verdienen.
Mit dieser Antwort endet um 163o Uhr die Diskussion mit Herrn von
Weizsäcker. Er signiert noch viele Bücher, die von der Buchhandlung
Plaeschke freundlicherweise bereitgelegt wurden, ehe er mit seinen
Begleitern die Schule verlässt.
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