Nach über 2 1/2 Jahren konnte "unser" Moltke wieder mit einem Forum in der gleichnamigen und seit 27 Jahren bestehenden Reihe aufwarten, und der Zuspruch war erfreulicherweise sehr hoch, was zweifellos auch an dem brisanten Thema sowie dem ausgewiesenen Kenner der Materie, dem Osteuropa-Historiker von der Universität Bonn, Herrn Prof. Aust, lag.

       Eingangs seines Vortrags verwies Aust auf sein persönliches themenbezogenes Dilemma hin: Da er viele freundschaftliche Kontakte zu Kollegen/-innen in Kiew und Moskau/Petersburg besitze, falle es ihm schwer, bei den gegenwärtigen Vorgängen die einem Wissenschaftler obliegende Aufgabe der Objektivität strikt zu wahren.

       In seinen nachfolgenden Ausführungen zur mehr als wechselvollen Geschichte der Ukraine sieht der Hochschullehrer mit dem Jahr 1991 eine entscheidende Zäsur gekommen: Mit der Auflösung der UdSSR und der damit einhergehenden Errichtung eines unabhängigen ukrainischen Staates sei die über Jahrhunderte, spätestens aber seit dem 19. Jh. von den Ukrainern angestrebte <nationale Identität> Wirklichkeit geworden.

       Kurz, aber präzise, zeigte Aust in einem historischen Überblick die territorialen und von auswärtigen Mächten hervorgerufenen Zerreißproben dieses Landes auf:

       Sowohl die Ukraine als auch Russland und Belarus sehen ihren Ursprung in der Kiewer Rus (8. Jh.). Die Kiewer Rus hatte ihre Blütezeit im 10./11.Jh. Bis zum Ende des 18. Jh. gelang es Russland, weite Teile der Ukraine seinem Territorium einzuverleiben. In der Folge des 1. Weltkrieges und der Russischen Revolution (1917) wurde am 25.1.1918 die Ukrainische Volksrepublik verkündet. Als im Gefolge des russischen Bürgerkrieges (1917/18 - 1922) die Sowjetunion sich gründete, wurde die Ukraine als neugegründete Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik erneut territorialer Bestandteil der UdSSR. Unter dem sowjetischen Führer Josef Stalin kam es ab 1929 zu einer von den Ukrainern abgelehnten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und einem von diesem geförderten Hungertod (= Holodomor), dem Millionen von Ukrainern zum Opfer fielen. Opfer territorialer Ansprüche wurde die Ukraine auch wieder im 2. Weltkrieg, in dem vor allem die deutschen Besatzer ein gnadenloses Regiment führten, dem Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, u.a. durch Verschleppung als "Ostarbeiter" nach Deutschland. Nach dem Krieg waren erstmals alle ukrainischen Länder in der Ukrainischen Sowjetrepublik als Teil der Sowjetunion vereinigt. Mit der "orangenen Revolution" (2004) und vor allem dem "Euromaidan" (2013) machten weite Teile der ukrainischen Bevölkerung deutlich, dass sie auf einer nationalen Identität und auf einer Integration in die Europäische Union beharrten. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim (2014) und von ebenfalls von Russland geförderten sezessionistischen Bewegungen im Osten der Ukraine setzte der Konflikt ein, der nun in dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24.2.2022 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.  

       Was die Person Putins anbetreffe, so habe sich dessen Rolle seit seiner ersten Präsidentschaft (2000) gewandelt., führte Aust des Weiteren aus. Sei er zunächst als Moderator der unterschiedlichen Richtungen im Vielvölkerstaat Russland aufgetreten, trete er heute als "historischer Missionar" mit einer "revisionistischen Programmatik" auf. Er sei als Politiker zunehmend unberechenbar geworden. Mit seiner "berühmten" Rede vom 21.2. habe er sich als der Sachwalter des russischen Geschichtserbes offenbart, demzufolge er als Imperator das/ein großrussisches Reich wiederherzustellen gedenke. Dabei habe er die "Entnazifierung der Ukraine" als Oberziel ausgegeben. Da man aber jetzt auf russischer Seite feststelle, dass die Ukrainer selbst dieses Ziel als obsolet ansähen, erkläre man schlicht die Ukrainer/-innen in toto zu Nazis. 

       Er, Aust, glaube daran, dass Russland den Krieg verliere, es aber nicht zu einer Kapitulation Russlands komme, dass aber die Souveränität der Ukraine gewahrt bleibe.

       In der Auseinandersetzung um die deutsche Rußlandpolitik verwies Aust auf die seit dem 18. Jh. bestehende "Russlandfixierung" der Deutschen, die dem politischen Handeln dort eher freundlich gegenüberstehe. Es gebe aber auch den Strang, der sich in die Tradition der mit den Namen Havel und Solidarnosc verbundenen demokratischeren Strukturen einordnen lasse und ein eher skeptisch-rationales Begegnen gegenüber dem Russischen für angebracht halte.

       Die anschließende Diskussion war sehr engagiert, äußerst sachlich und kompetent. Der breite und lang anhaltende Beifall der gut 150 Besucher verdeutlichte die Zufriedenheit derselben mit den äußerst kompetenten, konzisen, sachlich-ruhig, gleichwohl aber mit sehr freundlichem, zugewandtem Umgangston vorgetragenen Ausführungen des Gastes.

       Den Schülern blieb es vorbehalten, sich mit einem persönlichen Geschenk ihrerseits bei Herrn Aust zu bedanken.

       Dieser wiederum zeigte sich von dem Format, der Aufmerksamkeit der Gäste, ihren gutklassigen Fragen und ihrem erkennbaren Interesse beeindruckt.

       Das nächste Forum sieht Frau Prof. Isabel Heinemann von der Universität Münster als Gast, und zwar am 1.12.2022, also: Bitte vormerken!

Wolfgang van Randenborgh