Es ist ein ungewohnt buntes Bild: Vor dem Gymnasium am Krefelder Moltkeplatz drängen sich Superman, Minnie Maus und eine Elfe, auch ein Fußballer im BVB-Trikot ist gekommen. Sie alle eint ein Motto: "Helden der Kindheit" haben die Moltke-Abiturienten über diesen Tag gesetzt, um das Ende ihrer Schulzeit zu feiern.
Drinnen sitzen die Helden des Alltags: der Kursus Sozialwissenschaften, Stufe zehn. Auch hier steht Abitur auf dem Programm, nur etwas anders: Thema ist die gymnasiale Schulzeitverkürzung in NRW von neun (G 9) auf acht Jahre (G 8). Wie sehen die Schüler das "Turbo-Abi"? Was sagen ihre Eltern dazu? Und wie gehen die Lehrer damit um? Das diskutiert auf Anregung unserer Redaktion eine Viererrunde: die Zehntklässler Lajana Bruckhaus (15) und Max Keiten (17), die dreifache Mutter und Journalistin Carola Puvogel (47) und Moltke-Schulleiter Rolf Neumann (65).
Wie sieht eure Schulwoche aus?
Max Keiten Mein Stundenplan ist ganz gut, weil er dicht ist, mit wenig Freistunden. Ich habe einmal die Woche Nachmittagsunterricht, also neun Stunden am Stück, ansonsten immer sechs oder sieben Stunden. Lajana Bruckhaus Ich habe zweimal die Woche neun Stunden, mittwochs und donnerstags. Mittwochs habe ich zwar eine Freistunde und donnerstags die ersten beiden frei; aber zweimal erst nach vier zu Hause zu sein, ist nicht so schön.
Und danach kommen noch die Hausaufgaben?
Max Keiten Erst die Hausaufgaben, und dann geht's zum Sport, vier- oder fünfmal pro Woche.
Das klingt nach Stress.
Max Keiten Wenn man sich auch noch mit Freunden treffen will, ja. Aber ich habe viel Unterstützung von meinen Eltern: meine Mutter arbeitet nicht und fährt mich zu Spielen oder abends. Lajana Bruckhaus Jeder sagt, dass er Stress hat. Ich kenne keinen, der keinen Stress hat. Man hört oft, dass jemand sagt: Dazu bin ich einfach nicht mehr gekommen.
Wie lange sitzt du durchschnittlich am Tag an den Hausaufgaben?
Lajana Bruckhaus Eine Stunde, anderthalb, plus Referate.
Was kann die Schule zur Entlastung ihrer Schüler tun?
Rolf Neumann Wir haben zum Beispiel für die Sekundarstufe I die Regel aufgestellt: Kein Schüler darf mehr als vier Fächer pro Vormittag haben: das heißt: drei Doppelstunden oder zwei Doppel- und zwei Einzelstunden. Das bringt mehr Ruhe und weniger Hausaufgaben.
Jetzt seid ihr in der Oberstufe. War die Belastung in der Mittelstufe höher? Da ist schließlich damals das neunte Jahr gekürzt worden.
Lajana Bruckhaus Die Mittelstufe war noch ein Stück extremer. In der Neun hatte ich dreimal pro Woche neun Stunden, da hatte man wirklich für fast gar nichts mehr Zeit. Jetzt kommt natürlich langsam der Abi-Druck, aber ich kann wenigstens meine Fächer selber wählen.
Frau Puvogel, Sie sind Mutter einer G 9-Abiturientin des Jahrgangs 2012, eines G 8-Abiturienten des Jahrgangs 2013 und einer Zehntklässlerin. Was hat sich über die Jahre geändert?
Carola Puvogel Was die Schulzeit meines Sohnes angeht, erinnere ich mich, ganz anders als bei meiner älteren Tochter, vor allem an extremen Stress; der nahm sich, wenn er nach Hause kam, nicht einmal die Zeit, das Essen in der Mikrowelle warmzumachen, schlang das in sich hinein, rannte zur Bahn, fuhr zum Sport, kam um neun zurück und setzte sich noch an die Hausaufgaben. Sein Musikinstrument hat er schnell drangegeben, den leistungsbezogenen Sport letztlich auch.
Kam er dann nach Hause und sagte: Mama, ich bin so gestresst?
Carola Puvogel Er hat gar nichts gesagt. Er hat sich die Sporttasche geschnappt und ist abgezwitschert. Vom Familienleben bleibt da nicht viel. Uns wird ein Jahr gestohlen, und die Restzeit ist enorm stressig.
Wie wichtig ist es für euch, das eingesparte Jahr zu nutzen und nach dem Abi möglichst bald zu arbeiten?
Lajana Bruckhaus Wenn ich mein Abi habe, bin ich 17. Dann bin ich noch nicht einmal erwachsen. Ich werde bestimmt ein Auslandsjahr machen oder Praktika, um herauszufinden, was mich interessiert. Das hätte ich aber nach einem G 9-Abi auch tun können. Dass ich dabei ein Jahr verliere, ist mir nicht so wichtig. Lieber weniger Stress!
Max Keiten Aber man steht schon auch in Konkurrenz mit Leuten aus anderen Ländern. Ich weiß nicht, ob dann vielleicht eher die jungen Bewerber eine Chance haben.
Carola Puvogel Hochschulreife bekomme ich ja nicht, indem ich meine Stunden in der Schule absitze, sondern indem ich mich politisch engagiere, ins Ausland gehe, spannende Sachen erlebe... Die Betriebe bekommen doch jetzt Absolventen, die nichts gesehen haben vom Leben. Dafür war keine Zeit.
Rolf Neumann Das ist auch ein Problem der Politik. Es fehlen klare und mutige Entscheidungen zum Vorteil der Schüler. Es kann nicht sein, dass jeder Lobbyist seinen Wunsch nach einem Fach durchsetzt.
Zum Beispiel?
Rolf Neumann Zum Beispiel die Verpflichtung, in der Oberstufe zwei Fremdsprachen oder zwei Naturwissenschaften zu belegen. Die ist ja nicht vom Himmel gefallen, dahinter stehen Verbände. Das gilt noch stärker für die Sekundarstufe I.
Welches Fach ist überflüssig?
Lajana Bruckhaus (lacht) Mathe...
Max Keiten Da ist jeder unterschiedlich in seinen Vorlieben. Ich mache zum Beispiel gerne Mathe. Man könnte sich ja stärker spezialisieren wie etwa an Berufskollegs.
Wo bleibt da die Allgemeinbildung?
Rolf Neumann Ein "Reifezeugnis" ist das Abiturzeugnis ja nur noch dem Namen nach. Man hat aber in der Politik nicht den Mut gehabt, auch den Fächerkanon zu ändern.
Wo sollte man ansetzen?
Rolf Neumann Jeder Schüler muss bis zum Ende der Elf Religion oder Philosophie belegt haben. Musik und Kunst werden teilweise sogar parallel unterrichtet. Und die Frage nach der Sport-Pflicht in der Oberstufe muss man auch stellen.
Lajana Bruckhaus Man hat wirklich das Gefühl, dass das eine Jahr in die anderen Jahre gequetscht wurde. Aber die Lehrer müssen sich ja auch an ihre Lehrpläne halten. Weder Lehrer noch Schüler können dagegen etwas tun. Wir müssen da irgendwie durch. Das ist schon blöd.
G 8-Anhänger sagen, nirgends sei so viel getrödelt worden wie im G 9.
Rolf Neumann In der Stufe elf, ja. Das war nicht sehr angenehm. Carola Puvogel Ich finde das gut. Es gibt ja auch noch wichtige Dinge neben dem Schulstoff. Es bricht mir das Herz, wenn Schüler sagen: Ich verzichte auf etwas, das ich richtig gern machen würde, weil ich durchs Turbo-Abi muss. Das heißt doch: im Akkord durch die Schule.
Rolf Neumann Das liegt nicht am G 8, sondern an der Umsetzung. Man muss radikal kürzen.
Angenommen, Sie hätten und ihr hättet einen Wunsch an die Ministerin frei - welcher wäre das?
Rolf Neumann Den Mut zu haben, den Lehrplan zu entrümpeln und das auch durchzuziehen.
Lajana Bruckhaus Weniger Nachmittagsunterricht.
Max Keiten Den Ausbau des Ganztags, also mehr Sportangebote in der Schule und bessere Betreuung.
Carola Puvogel Weniger Unterrichtsausfall.
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